Slavomir B. – Zwangsarbeiter bei der Firma Drettmann

 

Slavomir B.  stellte Anfang 2001 einen Antrag beim Deutsch-Tschechischen Zukunftsfond, um aus Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“  Entschädigungsleistungen für die Zeit als Zwangsarbeiter bei der Firma Drettmann zu erhalten. In zwei Briefen an den Zukunftsfond schilderte  er seine Erinnerungen an  die Zeit als Zwangsarbeiter. Die Briefe sind vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfond   in anonymisierte Form  und in tschechischer Sprache zu Verfügung gestellt worden. Dankenswerter Weise sind die Briefe von einer in Bremer lebenden Übersetzerin ins deutsche übertragen worden.

 

Foxboro 5.1.2001*

Sehr geehrte Damen und Herren …

Nach Beendigung der Industrieschule für Chemie in Kolín im Juni 1940 schrieb ich eine Reihe von Bewerbungen an chemische Betriebe in Kolín, Pardubice und Prag. …Irgendwann Anfang September 1940 erhielt ich ein Schreiben, dass ich ins Arbeitsamt in Kolín kommen soll. (Bis heute erinnere ich mich daran, dass sich dieses trostlose Amt neben dem bekannten Kolíner Restaurant „Zu Karl IV“ befand). Weil ich mich in keinem Arbeitsverhältnis befand, wurde ich zum Transport nach Staab Holeischen (ich weiß nicht, ob das richtig ist) eingeteilt – irgendwo hinter Pilsen in den Sudeten. Es wurde im Wald gearbeitet. Ich war 18, ich wurde nicht zimperlich erzogen, aber die Arbeits- und sanitären Bedingungen waren schlecht. Untergebracht waren wir in feuchten Holzbaracken. Anstelle von Toiletten 5 ausgehobene Gruben und 5 Donnerbalken. Im Waschraum floss in gusseiserne Tröge nur kaltes Wasser. Ins Wirtshaus durften wir gar nicht und im Laden ließen sie uns spüren, wer SIE sind und wer wir. Deshalb habe ich zusammen mit einem anderen Betroffenen (ich glaube, ich wusste gar nicht, wie er hieß) einen Passierschein nach Pilsen genutzt und bin nachhause ausgerissen. Ich glaube, ich habe nicht einmal meinen Lohn bekommen. …

Zuhause schrieb ich wieder Bewerbungen fúr eine Anstellung. Ich wurde sogar zu einem Gespräch in die Verbrennungsanlage in Vysočany (Stadtteil von Prag) eingeladen . Wir waren da zu acht und als Nicht-Prager bekam ich wieder einen Brief mit der üblichen Formulierung. Irgendwann im Oktober oder November 1940 bekam ich erneut eine Vorladung vom Arbeitsamt. Ich wurde verhört wegen des Verlassens meines Arbeitsplatzes in den Sudeten und zum Transport nach Bremen eingeteilt. Etwa die Hälfte von ungefähr 40 Personen, die zum Transport eingeteilt waren, waren Studenten der Hochschule, die durch die Schließung der Hochschulen ihr Studium verloren hatten. Auf der Fahrt schloss ich Bekanntschaft mit dem Hoschschulstudenten Josef  E. aus Poděbrady oder Umgebung und mit dem Schlosser Josef Kohl aus Čáslav. Bei der Ankunft in Bremen wurden wir von einem nächtlichen Bombenangriff der Engländer begrüßt. Das Kreuzen von zig Scheinwerfern, das spätere Prasseln der Schrapnellen und das Herabfallen der Splitter verbesserte unsere Laune nicht. Von Bremen fuhren wir mit dem Personenzug etwas 15 km nach Osterholz-Scharmbeck. Wir wurden im Hotel TIVOLI untergebracht, wobei uns der Dolmetscher … mitteilte, dass wir uns innerhalb von 10 Tagen eine private Unterkunft suchen müssen, weil die Drettman Werke noch kein Lager gebaut hatten.

Der erste Arbeitstag. Nie habe ich dieser Zeit nachgetrauert. Auch heute nach 61 jahren weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Der Hochschulstudent E. ohne Beruf, räumte Späne von Metallbearbeitungsmaschinen weg, Kohl wurde in die Schlosserwerkstatt eingeteilt und ich? Ich hatte 2 Ausweise dabei: das letzte Zeugnis aus der Industrieschule für Chemie, was niemand verstanden hat, und ein Zeugnis über ein einjähriges Praktikums in der Autowerkstatt der Gebrüder Novotný in Kolín. Und auf diesem Zeugnis war im Briefkopf ein Auto gekreuzt vor einer Drehbank, abgebildet. Eine Drehbank hatte ich höchstens „vom Schnellzug aus gesehen“, und wenn, dann mit Keilriemenantrieb….  Der deutsche Meister führte mich also zu einer 4m langen Maschine, gleich kam ein ein Mann mit einer Kiste zugeschnittener runder eiserner Rohlinge und einem Monteuranzug obdendrauf und: los, mach! Gerettet hat mich ein Tscheche von der Drehbank nebenan, der hat mir sehr geholfen. Das war, wie ich bald feststellte, František Junek, ein Fußballer von Slavia Prag mit internationaler Erfahrung. Wir drei… suchten uns ein Privatzimmer am Rande des Dorfes. Ich erinnere mich daran, dass die älteren Eheleute, bei denen wir wohnten, keine verbissenen Nazis waren. Ihr einziger Sohn war an der Front. Schlimmer war es in der Fabrik. Gearbeitet wurde in 2 Schichten. In den darauffolgenden Monaten waren 12-Stunden-Nachtschichten eine Tortur. Es waren zwar ein paar Gebläse mit Warmluft in Betrieb, aber in der großen Halle war nichts zu spüren. Völlige Verdunkelung (draußen durfte man sich nicht einmmal eine Zigarette anzünden und das häufige Rennen in den kalten Luftschutzbunker ging auf de Nerven. Bei den Tagesschichten aßen wir in der Kantine. In die Nachtschicht brachten wir uns Essen von zuhause mit.

Wir waren 18, 19, 20, die vergeudeten besten Jahre. Kein Tanz, Kino oder Sport. Fast an jeder Säule hingen Plakate, die die deutschen Mädchen warnten, nichts mit Ausländern anzufangen. Ab und zu gab es auf dem Fabrikhof irgendwelche Appelle, wo uns der Dolmetscher N. abschreckende Beispiele übersetzte. Z.B. über einen Tschechen (den Namen habe ich total vergessen, aber ich erinnere mich, dass es ein großer, stattlicher junger Kerl mit lockigen roten Haaren war). Er bändelte mit der Tochter des Scharmbecker Bäckers an. Ich weiß nicht, ob er das deutsche Mädchen freiwillig heiratete, aber 3 Wochen nach der Hochzeit wurde er einberufen und dann haben wir ihn nicht mehr gesehen. Ich habe keinerlei schöne Erinnerung an die Zeit, vielleicht nur an ein paar Treffen eines musikalisch-sängerischen Zirkels, wo ich ein bisschen auf der Gitarre gespielt habe. Hauptsächlich haben wir jedoch den Liedern des Prager Harmonikaspielers zugehört und hatten dabei Tränen in den Augen.

Mit der Zeit verschlechterten sich die Bedingungen. Z.B. gab es als Beilage zum Mittagessen in der Kantine 365 x im Jahr Kartoffeln. Am Anfang waren sie einigermaßen gut. Ende 1941 bekamen wir schlechte, ungeschälte Kartoffeln. Die Fliegerangriffe oder -überflüge mit dem anschließenden Flugabwehr-Feuerwall nahmen zu und auch andere Umstände bewirkten, dass ich, J. und Jiři aus Kolín die Flucht planten. Aus Unkenntnis der Verhältnisse und jugendlichem Leichtsinn sollte das Ziel unserer Flucht Jugoslawien sein. Wir verkauften all unsere Sachen, vernichteten die Ausweise einschließlich der Kennkarte!? Wir haben nur die Tabaksdosen und ein paar Lebensmittelkarten behalten. Anfang März 1942 sind wir mit einem Ersatzhemd, ein paar Ersatzsocken und Essen für 2 Tage in der Tasche ins Unbekannte aufgebrochen.

Das erste Malheur passierte am Bremer Hauptbahnhof. An einer der vielen Kassen wollte ich 3 Fahrkarten für den Schnellzug nach München kaufen. Der Mann hinter dem Fenster verlangte Passierscheine. Die hatten wir nicht und so wurde ich mit einem argwöhnischen Blick abgelehnt. An einer anderen Kasse kaufte ich problemlos Fahrkarten für den Personenzug. Wir bewegten uns Richtung Süden in Abschnitten von fünfzig bis sechzig km. Bis nach Nürnberg. Auf dem Nürnberger Bahnhof waren am Ende der Treppe halbkreisförmig eine ganze Reihe Kassen angeordnet. Ich versuchte meine Glück und kaufte problemlos 3 Fahrkarten für den Schnellzug nach Graz. Mit Stolz wollte ich sie meinen Kollegen zeigen, aber die saßen trotz der Warnung, unauffällig zu sein, im Bahnhofsrestaurant und warteten auf das bestellte Essen, Salamibrot. Ich sah, wie an der Glastür zur Küche die Gardine zur Seite geschoben wurde und eine Hand in weißem Handschuh auf den Tisch zeigte, an dem wir saßen. Anstelle des Essens kam die Bahnpolizei, Kohl und Hrdlička bekamen Handschellen, auf mich wartete ein stattlicher deutscher Schäferhund. Verhöre, 3 Wochen oder einen Monat, ich weiß nicht mehr, Gefängnis in Würzburg und danach die kaum auszuhaltende Deportation nach Bremen. Normal wog ich 70 kg. Nach der Deportation nach Scharmbeck kaum 50. Diesen Lebensabschnitt erwähne ich ebenfalls nicht in meinem Antrag, da ich keinen Beweis habe und die Erinnerungen nach so viel Jahren nicht korrekt sein mússen. Nach der Deportation durften wir nicht mehr privat wohnen. Wir wurden in einem Objekt im Fabriklager untergebracht. Nach der Ankunft eines neuen Kontigents von angeblich auf eigenen Antrag aus dem Krankenhaus entlassenen kriminellen Gefangenen , täglichem und nächtlichem Glückskartenspiel, Streitereien und dabei auftauchenden Messern wuchs die Entscheidung, das irgendwie zu beenden. Ende Juni 1942 wurden wir nachts geweckt, an die Wand gestellt und ein Polizeikommando untersuchte unsere Blechschränke und drehte die Matratzen um. Später erfuhren wir vom Attentat auf Heydrich. Die überfallartigen Untersuchungen wiederholten sich noch ein paarmal. Irgendwann Anfang September 1942 schickte mich der deutsche Meister zum Arzt. Der rief nach dem Röntgen in der Fabrik an, und wie ich verstanden habe, sollte ich entlassen und schnellstens nachhause geschickt werden. Am nächsten Tag lagen an der Pforte meine Entlassungspapiere bereit. Zuhause ging mein Vater mit mir in die Tuberkuloseabteilung. Das Ergebnis war: abgeheilte, verkalkte Schatten auf der Lunge. Insgesamt körperlich abgemagert. Der Arzt schrieb mir ungefähr einen Monat Rekonvaleszenz auf. Das Arbeitsamt meldete sich noch einmal. Um den siebten Oktober herum wurde ich noch einmal vorgeladen. Ich ging mit meinem Vater hin. Mir wurde mitgeteilt, dass ich innerhalb einer Woche Arbeit in einem kriegswichtigen Betrieb finden oder ins Reich muss. Über irgendwelche Kontakre seitens meines Onkels trat ich am 14. Oktober 1942 in der sogenannten „Petroleumfabrik“, offiziell KORAMA, die Arbeit an. Und sogar im Labor.

Als ich am 12.4.2000 zur Registrierung und Abgabe der Nachweise kam, war ich überrascht von den der Menge der Menschen, die eine Menge Nachweise in der Hand hielten. Noch mehr überrascht war ich, als uns zu Beginn der Verhandlungen der Vorsitzende der Kreisorganisation des SNN (Verband der Zwangsarbeiter) mitteilte, dass gefälschte Dokumente und Zeugenaussagen aufgetaucht seien. Das hätte ich von meiner Generation nicht erwartet. Wie ich schon erwähnt habe, haben wir verschiedene Dokumente, Lohntüten u.ä. vor unserem Fluchtversuch vernichtet. Vom weiteren Abschnitt meines Zwangsarbeitereinsatzes hatte ich einige Nachweise, auch zwei, drei Fotos. Aber seit 1947 sind wir mit der Familie siebenmal umgezogen. Dreimal nach Kolín, dann nach Milín und Pribram , nach Jirkov bei Chomutov, nach Prag und erneut nach Chomutov. Jedesmal haben wir erneut geprüft, was wir mitnehmen. Außerdem ist mir nie im Leben eingefallen, dass es eine solche Aktion geben könnte. Und so blieb mir nur eine Abschrift des Arbeitsbuches, den ich für die Rentenansprüche aufgehoben habe. Für die Suche nach J. E. oder J. K blieb vor meiner Abreise in die USA keine Zeit.

Erneut führe ich an, dass ich mich bis 29.4.2001 bei meiner Tochter unter dieser Adresse aufhalte ..

Ab 1.5 2001 unter dieser Adresse: …

 

Mit freundlichem Gruß

B. Slavomír

*Foxboro ist ein Ort in den USA

 

Brief Nr.2:

 

Deutsch-Tschechischer ZukunftsfondsBetreff: Antrag auf Zahlung aus Mittelnder deutschen Stiftung                                                                                                                                                                                           Chomutov, 12.7.2001.

 

Ich beantrage hiermit über den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds Mittel von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, da ich von der unten beschriebenen nationalsozialistischen Gewalt betroffen war.

Nach etwa 16 Monaten Zwangsarbeit bei der Firma Drettmann in Osterholz-Scharmbeck, Kreis Bremen, haben wir – ich, Josef Kohl und Jiři Hrdlička – uns entschieden, näher an unsere Heimat zu gelangen, da wir keine Passierscheine für einen Besuch in der Heimat bekommen haben. In Nürnberg wurden wir aber aufgegriffen und ins Gefängnis nach Würzburg gebracht. Nach etwa 90 Tagen Einzelhaft wurden wir (…) transportiert, wahrscheinlich aufgrund der Fürsprache seitens der Fabrikleitung (Mangel an Arbeitskräften?). Bei diesem Transport ging es schon ums Leben! Nach etwa 14 Tagen Transport von Gefängnis zu Gefängnis unter unmenschlichen Bedingungen gelangten wir nach Bremen. Nach unendlichem Warten in der Gefängniszelle wurden wir entlassen, mussten aber eine Verpflichtung unterschreiben, dass wir uns in einer Stunde an der Pforte der Drettmann-Fabrik melden, ansonsten würde uns das KZ Farven (gemeint ist damit vermutlich das Arbeitserziehungslager in Farge) drohen. An den Namen kann ich mich nicht mehr genau erinnern.

Den Antrag stelle ich, nachdem ich in Ihrem Büro dazu aufgefordert wurde, obwohl ich praktisch keinen Nachweis mehr habe, nur die Zeugenaussage zweier Menschen, die ich versuchen werde, zu finden. Von Josef Kohl weiß ich, dass er aus Čáslav oder der Gegend um Čáslav herum stammt, weiß aber nicht, ob er noch lebt. Der zweite Zeuge, Jiři H. lebt in Kolín.

Mit freundlichem Gruß

Slavomir B.

Verf. Manfred Bannow

Veröffentlicht am

Diese Seite wurde zuletzt am 8. September 2021 geändert

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